HBO bei Hörsturz

Erstellt am 03 Aug 2010 11:42
Zuletzt geändert: 07 Feb 2017 11:43

Der akute Hörsturz ist ein plötzlicher Hörverlust oder eine schwere plötzliche Beeinträchtigung des Hörens, der jährlich etwa 5000 Menschen in Deutschland betrifft. Der Hörsturz kann mit einem Tinnitus kombiniert sein.

Der Hörsturz hat eine hohe Rate von Spontanheilungen. Ohne Therapie ist nach der Literatur1 in ca. 68% der Fälle mit vollständiger spontaner Wiederherstellung des Hörvermögens (Vollremission) zu rechnen, in 89% der Fälle mit deutlicher Besserung, welche überwiegend in den ersten vier Wochen eintritt. Die Angaben zur Spontanerholung in der Literatur streuen allerdings sehr, so dass keine gesicherten Aussagen über die tatsächliche Höhe der erhofften Spontanheilung getroffen werden können. Auf jeden Fall ist es aber aufgrund der hohen Spontan-Besserungsrate im Einzelfall kaum möglich, zu erkennen, ob eine Besserung nun spontan oder als Folge einer Therapie eingetreten ist. Für keine Therapie des Hörsturzes gibt es bisher einen Wirksamkeitsnachweis.

Aus diesem Grunde ist es zur Beurteilung der Wirksamkeit sinnvoll, den Effekt einer Behandlung beim Hörsturz im Rahmen so genannter randomisierter, kontrollierter Studie zu prüfen, wobei die Prüftherapie mit dem natürlichen Verlauf verglichen werden sollte.

Für die Einschätzung von Anträgen auf Durchführung einer hyperbaren Therapie bei Hörsturz oder Hörsturz-bedingtem Hörverlust ist eine Schweregrad-Abschätzung der vorliegenden Erkrankung bzw. Symptomatik notwendig:

Im Einzelfall ist das Lebensalter für die Bewertung eines individuellen Hörverlustes von großer Bedeutung. Der Literatur ist zu entnehmen, dass in höheren Altersgruppen das Hörvermögen im Bereich der hohen Frequenzen bei den meisten Menschen stark absinkt.

Gemäß einer Expertise zum Altenbericht der Bundesregierung von 20022 weisen 45,3% der älteren Männer und 43,3% der älteren Frauen eine sensorische Beeinträchtigung des Hörens auf mit Audiometrie-Hörschwellen von mehr als 55 dB im Sprachbereich (0,25-2kHz) und/oder von mehr als 75 dB im Frequenzbereich von 3-8 kHz.

Zur Verdeutlichung soll folgende Abbildung aus einem Ärzteblatt-Artikel aus dem Jahr 2005 dienen, welche die Abnahme der Hörschärfe mit zunehmendem Alter aufzeigt:
Dtsch_Arztebl_2005_Tonaudiogramme.gifBereits die Berliner Altersstudie hatte gezeigt, dass bei 30% aller über 65-Jährigen gravierende Höreinbußen vorliegen, so dass eine Hörhilfe verordnet werden muss (Tesch-Römer 20013).
Berliner_Altersstudie_MM1.PNG

Insgesamt zeigen die vorliegenden epidemiologischen Daten mit zunehmendem Alter eine Verschlechterung der Hörschwelle bei zunehmender Frequenz. Hochaltrige Personen (85 bis 89, 90 bis 94 und über 95 Jahre) zeigen insgesamt die gravierendsten Einbußen des Hörvermögens; aber bereits die Gruppe der über 60-Jährigen zeigt deutliche Hörverluste im Bereich der Sprachfrequenzen.

Die Beurteilung eines Hörverlustes sollte somit immer unter Berücksichtigung der alterstypischen Hörfähigkeit erfolgen. Altersuntypische Hörverluste können einen außergewöhnlichen Einzelfall anzeigen und eine vom Regelfall abweichende sozialmedizinische Bewertung erfordern.

In der Regel betrifft ein Hörsturz - und der daraus ggf. resultierende Hörverlust - nur ein Ohr.

Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass selbst ein vollständiger, einseitiger Hörverlust nach der aktuellen Versorgungsmedizin-Verordnung (früher „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und im Schwerbehindertenrecht“) keine Schwerbehinderung bedingt. Nach der Versorgungsmedizin-Verordnung ist für die Bewertung eines Grades der Behinderung die Herabsetzung des Sprachgehörs maßgebend. Das Sprachgehör ist von der Hörfähigkeit beider Ohren abhängig.
Ist im Einzelfall bei Beeinträchtigung eines Ohres das kontralaterale Hörvermögen nicht oder nur unwesentlich eingeschränkt, liegt keine zur "Schwerbehinderung" führende Schwerhörigkeit vor.

Ein einseitiger vollständiger Hörverlust im Sinne einer einohrigen Taubheit kann im sozialen Entschädigungsrecht mit einem Grad der Behinderung von 20 bewertet werden (Eine tatsächliche diesbezügliche Einschätzung ist vom Einzelfall und evtl. bestehenden weiteren Behinderungen abhängig).

Insofern von einer Schwerbehinderung nicht auszugehen ist, ist aus sozialmedizinischer gutachterlicher Sicht bei einseitigem Hörverlust oder einohriger Taubheit eine wertungsmäßige Vergleichbarkeit mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung im Sinne des Bundesverfassungsgerichtsbeschlusses vom 06.12.2005 nicht anzunehmen.

Inwieweit eine Beeinträchtigung der Lebensqualität und der Fähigkeiten zur Teilhabe, möglicherweise auch eine relevante, evtl. auch schwerwiegende Behinderung bezüglich bestehender beruflicher Anforderungen im Einzelfall vorliegen, kann nur unter Berücksichtigung der jeweils individuellen Einzelfall-Konstellation geklärt werden.

Aus sozialmedizinischer Sicht könnte ggf. auch zu prüfen sein, ob mit der beantragten Therapie ggf. mit höherer Wahrscheinlichkeit und unter ggf. effizienterem Ressourceneinsatz (§§ 2, 12 und 70 SGB V) ein Heilungserfolg erzielt werden könnte als mit den zur Verfügung stehenden vertragsärztlichen Methoden.

Aus sozialmedizinischer (Public Health-) Sicht wäre ggf. auch zu berücksichtigen, inwieweit eine - möglicherweise im Einzelfall nur geringfügig wirksamere - Therapie auf bevölkerungsmedizinischer Ebene zu einer relevanten Beeinflussung bzw. Verminderung von Folgeschäden und im Lebensverlauf resultierenden Gesundheitsproblemen führen könnte.

Evidenz:

Eine Recherche nach Publikationen zum Thema „Hyperbare Sauerstofftherapie“ und „Hörsturz“ in der weltgrößten Datenbank medizinischer Literaturzitate, der Medline, erbrachte einige Publikationen, die seit dem Jahr 2000 (Abschluss des ersten Bewertungsverfahrens beim damaligen Bundesausschuss Ärzte/Krankenkassen) publiziert wurden.

Hierbei befanden sich auch mehrere systematische Übersichten (Reviews) inklusive einer Neufassung (Update) einer Metaanalyse der international hochrangigen Cochrane-Collaboration4.

Das Update der Metaanalyse der Cochrane-Collaboration kommt – im Unterschied zu dem letzten Bearbeitungsstand aus dem Jahr 2007 – mit Publikationsdatum Oktober 2012 zu dem Schluss, dass es Hinweise mittlerer wissenschaftlicher Qualität für eine Hörverbesserung durch frühzeitige Anwendung der Hyperbaren Sauerstofftherapie bei akutem Hörsturz gibt.

Bereits in früheren Jahren waren aus der wissenschaftlichen Datenlage Hinweise auf mögliche Hörverbesserungen durch frühzeitige Anwendung der hyperbaren Sauerstofftherapie (HBO) innerhalb der ersten zwei Wochen nach dem ersten Auftreten der Störung gefunden worden. Diesbezüglich hat sich die Datenlage in der Tendenz weiter verbessert, so dass die Qualität der wissenschaftlichen Belege für eine mögliche Wirkung auf das Hörvermögen jetzt von „niedrig-wertig“ auf „mittelgradig“ angestiegen ist.

Weitere Übersichtsarbeiten und Studien aus den letzten Jahren stützen eine vorsichtig-positive Einschätzung einer möglichen Wirkung einer frühzeitig beim Hörsturz eingesetzten HBO-Therapie zur Wiederherstellung des Hörvermögens, wobei allerdings die unzureichende Qualität der zugrunde liegenden Studien einen breiten und regelhaften Einsatz der Methode, insbesondere beim einseitigen Hörsturz, weiterhin nicht nahe legt.

Darüber hinaus wäre für eine Nutzen-Risiko-Bewertung auch eine Einschätzung eines möglichen Schadens erforderlich. Dies ist aufgrund der wissenschaftlichen Datenlage nur sehr begrenzt möglich, da eine systematische Erfassung möglicher Schäden bislang nicht publiziert wurde. Bislang liegen jedoch Patientenberichte über unangenehme Ereignisse wie Trommelfellschäden, vorübergehende Verschlechterung der Sehschärfe (z.B. bei Kurzsichtigkeit) und Raumangst (Klaustrophobie) vor. Insgesamt sind somit zumindest Hinweise auf geringe Schäden vorhanden.

Anzumerken ist, dass auch der Cochrane-Review aus dem Jahr 2012 ausdrücklich darauf hinweist, dass nach wie vor keinerlei Wirkungsbeleg für den Einsatz der HBO bei den Hörsturz begleitenden störenden Ohrgeräuschen, dem so genannten Tinnitus, gefunden werden konnte. Auch ist bislang noch in keiner Form nachgewiesen, dass der in der Akutphase beobachtete positive Effekt der HBOT auf das Hörvermögen auch langfristig, nach Monaten oder Jahren noch darstellbar ist.

Zusammenfassung und sozialmedizinisches Schlusswort

Trotz einer gegenüber der Entscheidungsgrundlage des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) aktuell in der Tendenz verbesserten Beweislage ist die derzeitige wissenschaftliche Datenbasis hinsichtlich der beantragten Hyperbaren Sauerstofftherapie (HBO oder HBOT) weiterhin nicht als ausreichender Beleg einer zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung für den Regelfall anzusehen. Dies trifft in besonderem Maße beim einseitigen Hörsturz ohne Komplikationen zu.

Insbesondere unter Berücksichtigung der Angaben in der wissenschaftlichen Literatur zu den hohen Spontanheilungsraten beim Hörsturz ist der Einsatz der Hyperbaren Sauerstofftherapie beim Hörsturz, speziell beim einseitigen Hörsturz, kritisch zu sehen5.

Zur möglichst unmissverständlichen Klärung der Frage, ob die hyperbare Sauerstofftherapie unter Berücksichtigung des gesetzlichen Auftrages der GKV nach objektiven Maßstäben als ausreichend, zweckmäßig, wirtschaftlich und notwendig in der Behandlung des Hörsturzes anzusehen sein könnte, hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) für die hyperbare Sauerstofftherapie (zusammen mit drei Untersuchungsmethoden) im April 2014 das Beratungsverfahren zur Erstellung von Erprobungs-Richtlinien gemäß § 137e Abs. 7 SGB V eingeleitet.


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