Off-Label-Use

Erstellt am 21 Aug 2015 21:30
Zuletzt geändert: 26 Aug 2023 02:16

Der "Off-Label-Use" stellt einen der häufigsten Begutachtungsanlässe in der Einzelfallbegutachtung von Arzneimitteln durch den MDK dar.


Definition:

Die Zulassung eines Arzneimittels für eine Indikation erfolgt nach der entsprechenden Prüfung durch die Zulassungsbehörde. Bei "In-Label"-Verordnung kann ein verordnender Arzt daher in der Regel von grundsätzlich geprüfter Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Arzneimittels ausgehen. (Die Zweckmäßigkeit, z.B. im Vergleich zu anderen therapeutischen Möglichkeiten und der medizinische Nutzen für die Patienten - und das Gesundheitssystem als Ganzes - werden durch das Zulassungsverfahren nicht überprüft.)

In vielen Fachgebieten (insbesondere Pädiatrie, Gynäkologie, Onkologie und Geriatrie) ist der Off-Label-Use häufig, weil viele Medikamente für die entsprechenden Patientengruppen nicht hinreichend untersucht und daher auch nicht ausdrücklich für sie zugelassen wurden. Off-Label-Use kann auch deshalb entstehen, weil die pharmazeutische Industrie die entsprechend Art der Anwendung bzw. Indikation nicht zusätzlich behördlich zulassen kann oder will, etwa infolge geringen Marktpotenzials oder aus Angst vor Haftpflichtverfahren oder Imagerisiken - oder um zu vermeiden, dass es in nationalen Preisverhandlungen bzw. Wirtschaftlichkeitsbewertungen zu niedrigeren Preisfestsetzungen aufgrund einer breiteren/geänderten Indikation kommt (Beispiel: Lucentis/Avastin).

Die europäische Zulassungsbehörde EMA - European Medicines Agency definiert in der Guideline on conduct of pharmacovigilance for medicines used by the paediatric population des Committee for Medicinal Products for Human Use (CHMP) den Off-Label-Use als Einsatz "outside the terms of the marketing authorisation".
Nach den Begutachtungshinweisen Off-Label-Use der MDK-Gemeinschaft betrifft dies neben den Anwendungsgebieten insbesondere die Dosierung, Art oder Dauer der Anwendung, Einschränkung der Gegenanzeigen, Änderungen der wirksamen Bestandteile nach Art und Dauer oder Änderung der Darreichungsform. Danach kann potentiell jede Abweichung von den in der Fachinformation genannten Modalitäten betroffen sein.


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Sozialrechtliche Regelung laut SGB V:

Versicherte haben Anspruch auf die Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln gemäß §31 SGB V, soweit diese nicht gemäß §34 SGB V oder durch eine G-BA-Richtlinie gemäß §92 SGB V ausgeschlossen sind.

Als Voraussetzung für die Leistungspflicht der GKV wird die Zulassung durch die entsprechende Zulassungsbehörde gesehen; dies wird jedoch im Sozialgesetzbuch nicht explizit formuliert. Es handelt sich um eine Auslegung der sozialgesetzlichen Forderung nach Einhaltung des "allgemein anerkannten Stands der medizinischen Erkenntnisse" gemäß § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V.

Ist ein Arzneimittel arzneimittelrechtlich in der BRD zwar zugelassen, jedoch nur in anderen Indikationsgebieten, handelt es sich somit um einen so genannten Off-Label-Use.

In einem Urteil des Bundessozialgerichtes (BSG) vom 19.03.2002 (Az.: B 1 KR 37/00 R; Sandoglobulin bei primär chronischer MS) wurde festgestellt, dass das damals geltende Leistungsrecht keine Bestimmungen enthielt, nach denen für eine Indikation zwar nicht zugelassene, aber dennoch dafür sinnvolle Arzneimittel eingesetzt werden konnten.

Daher formulierten die BSG-Richter folgende Bedingungen, unter denen nach der Einschätzung des Gerichts ein Off-Label-Use auch im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung möglich ist:

  1. Die Krankheit ist schwerwiegend, d. h. lebensbedrohlich oder beeinträchtigt die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig.
  2. Für diese Erkrankung ist keine andere zugelassene Therapie verfügbar.
  3. Aufgrund von Forschungsergebnissen besteht berechtigte Hoffnung auf einen Behandlungserfolg, weil entweder
  • "die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder
  • außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und auf Grund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht."

Von Rechtsanwalt Dr. Gerhard Nitz (Dierks & Bohle Rechtsanwälte, Berlin, www.db-law.de) wurde in einem Artikel auf den Webseiten des IWW "Institut für Wissen in der Wirtschaft" vom 01.10.2006 mit dem Titel "Mehr Möglichkeiten beim Off-Label-Use durch neues BSG-Urteil" das BSG-Urteil des BSG vom 4. April 2006 (Az: B 1 KR 7/05 R) kommentiert. Der Jurist kommt hier zu folgendem Fazit:

So betrachtet kann man das BSG-Urteil als Weiterentwicklung der Off-Label-Rechtsprechung verstehen, deren grundlegende Aussage ist: Bei schwerwiegenden Krankheitsbildern, die mit zugelassenen Behandlungsmethoden austherapiert sind, besteht eine Leistungspflicht der GKV für nicht in dieser Indikation (Off-Label-Use) oder gar nicht zugelassene Arzneimittel (Einzelimport gemäß § 73 Abs. 3 AMG), wenn ein Behandlungserfolg unter Berücksichtigung abstrakter Studienergebnisse und konkreter Behandlungserfahrungen mit einer in Relation zur Schwere der Erkrankung hinreichenden Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.

Allgemeiner bzw. (vermutlich) korrekter kann man das so fomulieren:

Dem BSG-Urteil vom 4. April 2006 (Az: B 1 KR 7/05 R) kann entnommen werden, dass bei einem konkret lebensbedrohlich verlaufenden Krankheitsbild, das mit zugelassenen Behandlungsmethoden austherapiert ist, eine Leistungspflicht der GKV für nicht in dieser Indikation (Off-Label-Use) oder gar nicht zugelassene Arzneimittel (Einzelimport gemäß § 73 Abs. 3 AMG) bestehen kann, wenn ein Behandlungserfolg unter Berücksichtigung abstrakter Studienergebnisse und konkreter Behandlungserfahrungen mit einer in Relation zur Schwere der Erkrankung hinreichenden Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.

In der Folge der BSG-Urteile Az: B 1 KR 7/05 R und B 1 KR 37/00 R wurden das SGB V (durch Hinzufügen des § 35c) und die Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) um Regelungen zum Off-Label-Use erweitert, indem eine eigene Anlage für Off-Label-Use (Anlage VI, früher Anlage 9) in die AM-RL eingeführt wurde.

Nach positiver Bewertung eines Arzneimittels für eine nicht zugelassene Indikation durch eine Expertengruppe beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Zustimmung des pharmazeutischen Unternehmens und entsprechender Übernahme durch den Gemeinsamen Bundesausschuss in die Anlage VI der AM-RL ist die Off-Label-Verordnung zu Lasten der GKV zulässig.

Bislang wurde nur ein Bruchteil aller regelmäßig oder zumindest häufig "off-label" eingesetzten Arzneimittel für eine nicht zugelassene Indikation vom G-BA bewertet und in Teil A oder B der Anlage VI aufgenommen.

Ergebnisse der Expertenkommissionen des BfArM

Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zum Off-Label-Use

Anlage VI: Off-Label-Use (früher: Anlage 9)

Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses zum Off-Label-Use

Beschlüsse Arzneimittel: Off-Label-Use (VI)

Angesichts der Vielzahl von Arzneimitteln, die "Off-Label" eingesetzt werden, wurde durch diese Regelung die Situation hinsichtlich der Anwendung bestimmter Arzneimittel außerhalb der Zulassung nur minimal gebessert und ist für die meisten Fälle in der Praxis nach wie vor unklar.

Das BSG-Urteil vom 19.03.2002 (Az.: B 1 KR 37/00 R) enthält übrigens eine bemerkenswerte Passage, in der sich die BSG-Richter zu den Ursachen für die Notwendigkeit von Einzelfallentscheidungen der Krankenkassen bei Off-Label-Use äußern:

"Der Mangel der fehlenden Zulassung des Arzneimittels für das im Streit befindliche Anwendungsgebiet kann allerdings mit dem Instrumentarium des Krankenversicherungsrechts nur in eng begrenzten Ausnahmefällen behoben werden. Das folgt daraus, dass es sich nicht um einen Mangel im Leistungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung handelt, sondern eine Versorgungslücke dadurch entsteht, dass das Arzneimittelrecht die ihm zugedachte Funktion nicht erfüllt."

Off-Label-Use im stationären Bereich:

Das LSG Berlin-Brandenburg hatte in einer Entscheidung vom 18. März 2010, Az. L 9 KR 280/08, die Auffassung vertreten, dass die Grundsätze des Off-Label-Use nur für vertragsärztliche Behandlungen anzuwenden seien und im Rahmen stationärer Behandlung allein der Maßstab des § 137 c SGB V gelte. Mithin forderte das LSG Berlin-Brandenburg nur die Wahrung des Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebots für den zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln im Krankenhaus.
Zur Wahrung des Qualitätsgebotes führte das BSG in einer Entscheidung vom 21. März 2013, (Az. B 3 KR 2/12 R) folgendes aus:
Die Vorgaben des § 2 Abs. 1 SGB V seien gewahrt, wenn

"über Qualität und Wirksamkeit der Behandlungsmethode zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden können. Der Erfolg muss sich aus wissenschaftlich einwandfrei durchgeführten Studien über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen lassen. Die Therapie muss in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erfolgreich gewesen sein. Als Basis für die Herausbildung eines Konsenses können alle international zugänglichen einschlägigen Studien dienen; in ihrer Gesamtheit kennzeichnen sie den Stand der medizinischen Erkenntnisse."

Der Ansicht des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg und damit den deutlich lockereren Voraussetzungen hat sich das BSG in seinem Urteil entgegengestellt. In dem zu entscheidenden Fall ging es um eine Patientin, die unter systemischem Lupus erythematodes (SLE) litt. Ihre gesetzliche Krankenkasse verweigerte die Kostenübernahme für eine intravenöse Immunglobulin-Therapie (IVIG) zur Behandlung einer Urtikaria Vaskulitis. Die Krankenkasse war der Auffassung, es fehle für einen Anspruch auf Kostenerstattung im Rahmen des Off-Label-Use an einer hinreichenden Studienlage und somit an der letzten der drei geforderten Voraussetzungen.
Am 13. Dezember 2016 traf das BSG seine Entscheidung zu der Frage, ob die Grundsätze über einen Off-Label-Use auch im Rahmen (teil-)stationärer Behandlung Anwendung finden müssen. In diesem Urteil (Az. B 1 KR 1/16 R) stellte das BSG summarisch fest, dass aus den medizinischen Überlegungen, die hinter dem Einsatz eines Medikamentes außerhalb seiner Zulassung zur Behandlung einer anderen Krankheit stehen, kein eigenes theoretisch-wissenschaftliches Konzept erwächst und somit ein Off-Label-Use keine Neue Methode (NUB) begründet.
Zu der Bewertung des Arzneimitteleinsatzes im stationären Bereich findet sich folgende Aussage in dem BSG-Urteil B 1 KR 1/16 R vom 13.12.2016):

Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs 1 S 3, § 12 Abs 1 SGB V) dagegen nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs 1 S 2 Nr 1 und 3, § 31 Abs 1 S 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche (§ 21 Abs 1 AMG) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt. Der Schutz Versicherter durch das materielle Arzneimittelzulassungsrecht macht nicht vor dem Krankenhaus Halt. Die Patienten in stationärer Behandlung sind nicht weniger schutzbedürftig als jene in vertragsärztlicher Versorgung. Für die Arzneimittelversorgung gelten im Krankenhaus grundsätzlich keine von der vertragsärztlichen Versorgung abweichenden Maßstäbe (vgl zum Ganzen Hauck, MedR 2010, 226, 229 unter II. 1. c).

Ein Kommentar zu diesem Urteil findet sich z.B. auf den Internetseiten der Rechtsanwaltspartnerschaft Seufert.
Ein anderer Kommentar wurde im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht: Deutsches Ärzteblatt: Recht: Vorsicht beim Off-Label-Use Eva-Maria Neelmeier; Dtsch Arztebl 2018; 115(43):[2])


Eine Möglichkeit der Anwendung von Arzneimitteln außerhalb des zugelassenen Anwendungsbereiches ergibt sich im Rahmen der Regelungen gemäß §35c SGB V und der hierauf fußenden Beschlüsse gemäß § 35c SGB V (Klinische Studien) des Gemeinsamen Bundesausschusses.

Weiteres hierzu siehe in dem Wiki-Beitrag zu Arzneimitteln in Studien.


Sonderfall: "Off-Label-Use" wirkstoffgleicher Arzneimittel

Bezüglich des Austauschs wirkstoffgleicher Arzneimittel - was möglicherweise hier vorliegen könnte - ist darauf hinzuweisen, dass Apotheken gemäß der gültigem "Rahmenverträge über die Arzneimittelversorgung" nach § 129 Absatz 2 SGB V ("Substitutionskriterien für Apotheken") Arzneimittel auch über verschiedene Indikationen hinweg austauschen müssen:
Gemäß § 129 Abs. 1 Satz 2 SGB V muss ein Substitutions-Arzneimittel "für ein gleiches Anwendungsgebiet zugelassen" sein, wie das ersetzte Arzneimittel.
Damit ist eindeutig geregelt, dass es ausreicht, wenn zwei wirkstoffgleiche Arzneimittel wenigstens in einem einzigen Anwendungsgebiet übereinstimmen.
Dieses Anwendungsgebiet muss nicht dasjenige sein, dass der Verordnung im Einzelfall entspricht.
Allerdings enthält § 129 Abs. 1 Satz 2 SGB V auch die Zusatzanforderung, dass Substitutions-Arzneimittel "mit dem verordneten in Wirkstärke und Packungsgröße identisch" sein müssen.
Diese Regelung bezieht sich ausdrücklich und spezifisch auf die Abgabe von Arzneimitteln in Apotheken, aufgrund dort vorgelegter Arzneimittel-Rezepte mit eindeutigen Dosierungs- und Packungsgrößen-Angaben.
Grundsätzlich ist es so, dass die individuelle Dosiseinstellung eines Arzneimittels zwar den Empfehlungen der Hersteller zu folgen hat, jedoch ebenso stets den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung tragen muss. Die Bestimmung der im Einzelfall verträglichen und wirksamen Dosis obliegt daher, insoweit Abweichungen von den Hersteller-Empfehlungen ein medizinisch begründetes Maß nicht überschreiten, in typischer Weise dem behandelnden Arzt.



Die folgenden Ausführungen stützen sich überwiegend auf einen Artikel des Rechtsanwaltes Dr. iur. Philip Schelling zum Off-Label-Use auf den Internetseiten des Berufsverbandes deutscher Internisten:

Haftungsrechtliche Relevanz der Off-Label-Verschreibung

Von der Rechtsprechung ist anerkannt, dass der Arzt aufgrund seiner Therapiefreiheit berechtigt ist, ein Medikament zulassungsüberschreitend einzusetzen1. Es kann sogar eine Rechtspflicht zur Off-Label-Therapie bestehen, wie ein Urteil des Oberlandesgericht Köln aus dem Jahre 1990 zeigt2:

Es ging hier um ein zweijähriges Kind mit Verdacht auf eine Herpesvirus-Enzephalitis. Auf den vom Gutachter geforderten sofortigen Einsatz des Präparats Aciclovir hatten die Ärzte verzichtet, da das Präparat zum damaligen Zeitpunkt für die Behandlung der Herpes-Enzephalitis noch nicht zugelassen war. Das Oberlandesgericht akzeptierte den Verweis auf die fehlende Zulassung jedoch nicht, weil es auch das Arzneimittelrecht nicht verbiete, ein Medikament, das gegen bestimmte Erkrankungen "auf dem Markt" ist, auch gegen eine andere Erkrankung einzusetzen, wenn dies medizinisch geboten ist. Das sei jedenfalls dann der Fall, wenn es medizinisch-wissenschaftlich erprobt ist und die Nebenwirkungen bekannt sind, was auf Aciclovir zutreffe.
Eine zusammenfassende Darstellung der Problematik des Off-Label-Use unter besonderer Berücksichtigung der Belange von Kindern und Jugendlichen findet sich auch in einem Artikel der Deutschen Apotheker Zeitung.

Das Gericht sah in der unterlassenen Gabe von Aciclovir sogar einen groben Behandlungsfehler mit der Folge der Beweislastumkehr3. Die Ärzte konnten jedoch nicht beweisen, dass die bei dem Kind eingetretene Hemiparese auch bei Einsatz von Aciclovir eingetreten wäre und wurden daher zu Schadensersatz und Schmerzensgeld verurteilt.

Auch M. Gaßner schrieb in einem Artikel im Deutschen Ärzteblatt 2013 (Dtsch Arztebl 2013; 110(31-32): A-1474 / B-1298 / C-1282), dass das Arzthaftungsrecht einen Off-Label-Gebrauch unter Umständen sogar verlangen kann - wenn dieser nämlich dem "anerkannten Standard" oder dem "Facharztstandard" entsprechen würde:

Nach den Vorgaben des Haftungsrechts muss eine Behandlung dem medizinischen beziehungsweise Facharztstandard entsprechen. Maßstab sind unter anderem die Grundsätze der evidenzbasierten Medizin. Das heißt, dass medizinische Maßnahmen, deren Wirksamkeit nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin als gesichert gilt, bei der Bestimmung des medizinischen Standards berücksichtigt werden müssen. Hierzu kann durchaus auch die Behandlung mit einem nicht oder nicht für diese Indikation zugelassenen Arzneimittel gehören. Der medizinische Standard orientiert sich – sowohl im Zivil- als auch im Strafrecht – am Leitbild eines erfahrenen Facharztes im besonderen Verkehrskreis des betroffenen Arztes.

Beabsichtigt der Arzt eine Off-Label-Therapie, gilt unter haftungsrechtlichen Gesichtspunkten also folgendes:

1. Facharztstandard, Nutzen-Risiko-Analyse

Wie bei jeder Behandlung muss der Arzt auch bei der Arzneimitteltherapie den sog. Facharztstandard einhalten. Diesen konkretisiert das Oberlandesgericht Bamberg4 hinsichtlich der "Dispositionen des Arztes bei der Medikation" wie folgt:
• Grundsätzlich darf ein Medikament nicht verordnet werden, das wegen seiner Gefährlichkeit außer Verhältnis zum Behandlungsziel steht.
• Um den Patienten keinen vermeidbaren Risiken auszusetzen, muss die "im ganzen risikoärmere Alternative" gewählt werden.
• Vor Beginn der Arzneitherapie muss der behandelnde Arzt eine auf den individuellen Patienten bezogene Nutzen-Risiko-Abwägung vornehmen.

Im speziellen Fall der Off-Label-Verschreibung steht dem berechtigten Wunsch des Patienten nach wirksamer Behandlung seiner Krankheit das potentielle Risiko durch ein Arzneimittel gegenüber, das kein Zulassungsverfahren für den beabsichtigten Anwendungsbereich durchlaufen hat.
Daher muss der Arzt beim Off-Label-Einsatz im Rahmen der Nutzen-Risiko-Abwägung5 , die ohnehin jeder Arzneimittelverordnung vorausgehen muss6, den Aspekt der fehlenden Zulassung besonders berücksichtigen. Hier sind die erwartete, aber nicht durch Zulassung belegte Wirksamkeit für das gewählte Anwendungsgebiet gegen die bekannten Nebenwirkungsrisiken sowie die möglichen zusätzlichen unerwünschten Nebenwirkungen, die sich aus der Anwendung in dem nicht zugelassenen Anwendungsgebiet ergeben können, gegeneinander abzuwägen. Die Vor- und Nachteile sind dabei in Verhältnis zur Nichtbehandlung der Erkrankung oder zu deren Behandlung mit einem anderen Medikament zu setzen.

Das Oberlandesgericht Hamm7 hat beispielsweise bei einer Injektionsbehandlung mit Pentosanpolysulfat SP 54 außerhalb des zugelassenen Bereichs einen „ausführlichen Chancen- und Risikovergleich“ zwischen dem On- und dem Off-Label-Präparat gefordert. Wenn eine solche unterbliebe, läge - so das Gericht - ein rechtswidriger ärztlicher Eingriff vor.

2. Aufklärungs- und Hinweispflichten

Dass auch bei der Verschreibung von Medikamenten eine Aufklärungspflicht besteht, ist vielen Ärzten nicht bekannt. Insoweit ist insbesondere auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2005 hinzuweisen, nach der gilt: Kommen schwerwiegende Nebenwirkungen eines Medikaments in Betracht, ist neben dem Hinweis in der Gebrauchsinformation auch eine persönliche Aufklärung durch den das Medikament verordnenden Arzt erforderlich8.

Mit diesen Feststellungen begründete das Gericht die Schadensersatzpflicht einer Frauenärztin gegenüber ihrer Patientin, die nach der Verschreibung eines Antikonzeptionspräparates auf Grund der Wechselwirkung der Hormone mit ihrem Nikotinkonsum einen Schlaganfall erlitt. Die Frauenärztin hatte zwar auf den Beipackzettel hingewiesen und sogar erklärt, dass sich die Pille und Rauchen „nicht vertragen“, was dem Gericht jedoch nicht genügte.

Neben dieser allgemeinen Aufklärungspflicht ist auch über den Off-Label-Use als solchen aufzuklären, wie der BGH explizit entschieden hat. Denn ohne eine in Deutschland gültige Zulassung fehlt dem Arzneimittel gleichsam ein „Gütesiegel“, das für die Entscheidung des einzelnen Patienten wesentlich sein kann und über das er deshalb auch informiert werden muss. In dem zunächst vom BGH strafrechtlich und anschließend vom Oberlandesgericht Saarbrücken zivilrechtlich entschiedenen Fall ging es um einen "Surgibone"-Dübel bei einem Eingriff an der Halswirbelsäule. Die unterlassene Aufklärung über das Fehlen der Zulassung führte zur Unwirksamkeit der Einwilligung des Patienten und damit zu Rechtswidrigkeit des Eingriffs9.

3. Dokumentation

Damit der Arzt die Entscheidung für einen Off-Label-Use in einem Haftungsprozess auch rechtfertigen kann, muss er seine Nutzen-Risiko-Abwägung genau dokumentieren. Da er außerdem im Zivilprozess beweisen muss, dass er den Patienten hinreichend aufgeklärt hat, ist auch die Dokumentation der Aufklärungsgesprächs von größter Wichtigkeit.

4. Gefährdung des Haftpflicht-Versicherungsschutzes durch Off-Label-Use

Ob der Einsatz eines Off-Label Präparates vom Versicherungsschutz umfasst ist, hängt von den individuellen Versicherungsvereinbarungen zwischen dem Arzt und seiner Haftpflichtversicherung ab. Die Bedingungen der Haftpflichtversicherungen geben Versicherungsschutz für Behandlungen, "soweit diese in der Heilkunde anerkannt sind."

Deckungsschutz besteht danach jedenfalls in allen Off-Label-Anwendungen, die sich als Behandlungsstandard etablieren konnten und in denen die seitens des Bundessozialgerichts aufgestellten Voraussetzungen vorliegen.

Da der Versicherungsschutz auch der Therapiefreiheit Rechnung tragen muss, müsste darüber hinaus auch bei Nichtvorliegen der drei Voraussetzungen des Bundessozialgerichts immer dann Deckungsschutz bestehen, wenn der Off-Label-Einsatz auf der Basis wissenschaftlicher Ergebnisse in medizinisch verantwortbarer Weise erfolgt.
Hiervon kann z.B. ausgegangen werden, wenn die Anwendung des Arzneimittels innerhalb einer Fachgruppe bzw. in der Behandlung einer bestimmten Patientengruppe ausgesprochen häufig ist und quasi als "Standard" anzusehen ist. Solche Situationen finden sich vor allem in der Pädiatrie und Neonatologie. Eine im Jahr 2009 publizierte Studie ergab, dass nur 40 % der verordneten Packungen und nur 20% der verordneten Wirkstoffe bei Neugeborenen explizit für diese Altersgruppe zugelassen waren10.

In allen anderen Fällen handelt es sich um Sonderrisiken der ärztlichen Behandlung, die gesondert mitversichert werden müssen11.

Deshalb ist der Arzt, insbesondere dann, wenn er im Rahmen einer Schwerpunktpraxis Off-Label-Use "flächendeckend" praktiziert, gut beraten, zur eigenen Absicherung vorsorglich entsprechend Rücksprache mit seiner Versicherung zu nehmen, inwieweit dort für den Off-Label-Einsatz eine besondere Vereinbarung für erforderlich gehalten wird12.

Off-Label-Use und Wirtschaftlichkeitserwägungen

Es gibt Indikationen, bei denen Off-Label-Medikamente genauso wirksam sind wie die zugelassenen Alternativen, aber deutlich günstiger sind. Ein Beispiel ist die Behandlung der neovaskulären altersabhängigen Makuladegeneration: Der zugelassene Wirkstoff Ranibizumab ist um ein Vielfaches teurer als das off-label verwendete Bevacizumab, aber medizinisch sind beide – nach Studienergebnissen – fast gleichwertig13.

Ein ähnlicher Fall in der Geburtshilfe ist Nifedipin zur Wehenhemmung: Für Nifedipin liegen Daten aus Studien vor, wonach es nebenwirkungsärmer ist als das zugelassene Fenoterol und sehr wirksam für die Wehenhemmung14. Im Vergleich zu dem dieser Indikation zugelassenen Atosiban ist Nifedipin wesentlich kostengünstiger, weshalb es in gynäkologische Kliniken gerne "off-label" eingesetzt wird.

Off-Label-Use in anderen Ländern

In Großbritannien hat das General Medical Council (so etwa das Äquivalent zur Bundesärztekammer) eine Leitlinie zum Umgang mit Arzneiverordnungen publiziert, die auch den Off-Label-Use umfasst. Die Leitlinie "Prescribing guidance: Prescribing unlicensed medicines" ist auf den Webseiten des General Medical Council (GMC) abrufbar.
Im September 2017 publizierte das British Journal of Clinical Pharmacology einen Übersichtsartikel, dem sich eine Vielzahl von Definitionen und die entsprechenden rechtlichen Regelungen in Grossbritannien entnehmen lassen, mit dem Titel: Unlicensed and off-label uses of medicines: definitions and clarification of terminology.

Weblinks

Im Falle eines off-label-use besteht die Möglichkeit eine definierte Kassenleistung über einen off-label-Antrag bei der Krankenkasse des jeweiligen Patienten zu erwirken. …


Alle Darstellungen medizinischer Sachverhalte, Erkrankungen und Behinderungen und deren sozialmedizinische Einordnung und Kommentierungen hier im Wiki dienen nicht einer "letzt begründenden theoretisch-wissenschaftlichen Aufklärung", sondern sind frei nach Karl Popper "Interpretationen im Licht der Theorien."
Zitat nach: Bach, Otto: ''Über die Subjektabhängigkeit des Bildes von der Wirklichkeit im psychiatrischen Diagnostizieren und Therapieren''. In: Psychiatrie heute, Aspekte und Perspektiven, Festschrift für Rainer Tölle, Urban & Schwarzenberg, München 1994, ISBN 3-541-17181-2, (Zitat: Seite 1)
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